- Franz Kuehmayer -
Leistung verhindert Erkenntnis.
Alles wird immer schneller, dynamischer. Das Gefühl kennt man selbst allzu gut. Wir konnten mit der Geschwindigkeit der Welt schon bislang schwer mithalten, und jetzt muss alles plötzlich nochmal viel schneller gehen. Kritische, für Unternehmen geradezu überlebenswichtige Entscheidungen stehen an und sie erlauben keine Verzögerung.
Die Corona-Krise als Turbo-Beschleuniger.
Dabei hat Dynamik nur am Rande mit Geschwindigkeit zu tun. Viel eher ist sie Ausdruck der Menge und Tragweite an Überraschungen, die auf uns einwirken – aufgrund von externen Impulsen, wie z.B. Marktveränderungen – oder die wir selbst schaffen – zum Beispiel durch eigene Innovationen. Zentral ist: Es geht um Unplanbares, Unvorhersehbares, Überraschendes.
Im privaten Alltag erleben wir das vielfach als bereichernd, ja sogar wünschenswert. Die gesamte Unterhaltungsindustrie lebt davon, dass wir überrascht werden wollen: Durch die Pointe des Kabarettisten, durch den Plot-Twist im Film, durch das aufmerksame Geschenk, das uns ein lieber Mensch bereitet. Verliefe unser Leben stets so, wie wir es erwartet haben, würde uns sehr bald langweilig.
Wir haben als Menschen nicht nur die Fähigkeit, sondern sogar die Sehnsucht danach, Überraschungen zu erleben und zu meistern.
Im beruflichen Kontext ist jedoch das Gegenteil der Fall. „No suprises“gilt als eine der wichtigsten Regeln im Umgang mit Führungkräften. Und wirkt auch im größeren Maßstab. Aktienkurse von Unternehmen orientieren sich beispielsweise an der Erwartungshaltung der Analysten, die man besser nicht enttäuschen sollte.
Konsequenz: Heerscharen von Mitarbeitern werden in Konzernen darauf gedrillt, Abweichungen vom Geplanten zu finden, zu eliminieren und ggf. auch zu bestrafen: Konzernrevision, Prozessbeauftragte, Verfahrenshandbuchautoren, ISO-9000-Champions, Six-Sigma-Blackbelts – die Namen sind klingend, der Auftrag ist stets gleich: No surprises. Das Fehlerlose wird angestrebt, am Deutlichsten ausgedrückt durch den Begriff des „Glattläufers“. Darunter wird in der Finanzindustria ein Geschäftsvorgang verstanden, der von A bis Z so abgelaufen ist, wie geplant: Alle Formulare richtig ausgefüllt, die Fristen eingehalten, die Formvorgaben erfüllt. Perfekt.
Unternehmen versuchen, durch Perfektion ihres bisherigen Vorgehens, ihre Zukunftsfähigkeit abzusichern. Und je zielstrebiger sie das tun, umso härter ist der Aufprall in der Realität.
„Je planmäßiger unser Vorgehen, umso wirkungsvoller trifft uns der Zufall.“ wußte schon Friedrich Dürrenmatt. Ein Beispiel gefällig? Während die deutsche Automobil-Industrie mit geradezu manischer Detailverliebtheit die Spaltmaße bei VW, Audi & Co immer weiter zu reduzieren trachtete, ist der Wandel in Richtung Elektromobilität an ihr vorübergezogen. Ergebnis: Tesla konnte 2018 am zweitgrößten Automarkt der Welt erstmals mehr Fahrzeuge absetzen als Audi. Reaktionen aus Stuttgart, München und Wolfsburg: Aber die Spaltmaße!! Perfekt, oder?
Resilienz, Dynamik-Resistenz und Robustheit zu verbessern, gelingt nicht durch Leistungssteigerung.
So nachvollziehbar es ist, sich in unsicheren Märkten und schwankenden Konjunkturen auf Effizienz und Restrukturierung zu konzentrieren, so kurzsichtig ist es auch. Die kalte Corona-Dusche hat es deutlich gemacht: Zukunftssicherheit, ja sogar Überlebensfähigkeit, hängt vom scheinbar unnötigen Überfluss ab, von Zwischenlagern, Umwegen, Redundanzen. Von Vielfalt statt Slimline.
So ausgefeilt Planungs-, Budgetierungs- und Produktions-Prozesse auch gestaltet sind, letztlich gelangt nicht nur die Organisation, sondern auch der darin handelnde Mensch an einen Punkt, an dem Komplexität und Dynamik der Welt nicht mehr beherrschbar sind. Situationen, die nicht mit Ursache-Wirkungs-Prinzipien erklärt werden können, führen auch die Chefetage auf brüchiges Terrain. Dann braucht sie eine zuversichtliche Denk- und Handlungsweise im Umgang mit Unsicherheit und Risiko.
Was für Organisationen zutrifft, gilt spiegelgleich für auch für die handelnden Personen selbst:
Der Fokus auf Leistung ist die Abkürzung in die Sackgasse.
Je enger der Tunnelblick, umso gefährlicher verengt sich nicht nur die fachliche, sondern auch die menschliche Perspektive. Der schiere Leistungsgedanke ist ein Risikofaktor – für die Qualität unternehmerischer Entscheidungen, aber auch mindestens so stark für unsere eigene Verfassung.
Christian Konrad, fast 20 Jahre lang Generalanwalt des Österreichischen Raiffeisenverbandes und damit selbst einer der mächtigsten Manager des Landes, hat beobachtet: „Wenn Spitzenmanager Ihre Funktion verlieren, fällt oft alles weg.“ Für karriereorientierte Workaholics, die sich im beruflichen Alltag vorwiegend auf Business Continuity konzentrieren und das nächste Umsatzziel vor Augen haben, ist das eine schmerzhafte Erfahrung, die sie oft erst dann machen, wenn sich persönliche Krisen einstellen.
Erst wenn erlebt wird, dass die vertrauten Wege ihre Wirksamkeit nicht mehr in gewünschter Weise entfalten, greifen wir auf das zurück, was tiefer sitzt. Spät, manchmal bedauerlicherweise zu spät, wird klar: Das Streben nach noch mehr Leistung hat Erkenntnis verhindert. An unseren persönlichen Grenzen angelangt, erkennen wir deutlich, was uns als Menschen zutiefst bewegt und ausmacht: Familie, Gemeinschaft, Kunst, Kultur. Wir sind soziale und schöpferische Wesen.
Corona führt uns als Gesellschaft und als Wirtschaft an die Grenzen der Leistungsfähigkeit. Und eröffnet damit völlig neue Chancen.
Das kreative Multitalent Markus Gull beschreibt die kontemplatorische Stille des Home Office als idealen Resonanzraum: „Auch wenn es sich gerade nicht so anfühlt und uns, während wir zuhause sitzen, das Gefühl von Hausarrest, Strafe, Isolation und Kranksein begegnet, so ist doch das Gefühl von Nachsitzen weit stimmiger: Jetzt können wir nachlernen, was wir längst wussten.“
Die Inspiration für ein gelingendes Morgen wird nicht daraus entstehen, dass wir uns fragen, wo wir in der Vergangenheit mehr Leistung erbringen hätten sollen. Sie wird auch nicht daraus erwachsen, Corona als eine einmalig auftretende Anomalie des Business-Lebens zu betrachten. Wir müssen daraus vor allem die Fähigkeit zur Bewältigung der Dynamik der Welt lernen. Diese Fähigkeit unterscheidet sich fundamental vom tradierten Leistungsgedanken.
Leistung verhindert Erkenntnis. Gute Führung erhebt sich daher aus der kühlen Rationalität der Businesslogik auf die Ebene der Sinnlichkeit. Das ist keine esoterische Träumerei, und es ist nicht nur aus humanistischen Gründen Wert-voll, sondern wirtschaftlich Sinn-voll.